Zwischen den Welten – Aufwachsen als jemand, der mehr sieht, hört und fühlt
Es gibt Kinder, die schon mit weit offenen Augen auf die Welt kommen. Nicht nur auf die sichtbare Welt, die Häuser und Straßen, das Lachen und Weinen. Sondern auch auf das, was darunter liegt – die feinen Strömungen zwischen den Menschen, die ungesagten Worte, die Stimmungen, die Räume füllen, bevor jemand sie betritt.
Ich war eines dieser Kinder.
Und vielleicht erkennst du dich wieder.
Von Anfang an gab es Momente, in denen alles ein bisschen mystisch schien. Der Wind, der durch die Vorhänge fuhr und Geschichten flüsterte. Schatten, die nicht nur dunkel waren, sondern eine eigene Sprache hatten. Begegnungen, die länger im Herzen leuchteten, als sie dauerten.
Doch dieses Mehr-Sehen, Mehr-Hören, Mehr-Fühlen hat seinen Preis.
Denn es macht dich… bunt.
Graue und bunte Menschen
Es gibt Menschen, die ich „grau“ nenne – ohne jede Abwertung. Grau kann warm sein wie ein alter Wollpullover oder kühl wie ein Morgennebel. Es sind die Menschen, die gut ins System passen. Die Regeln und Strukturen meist nicht infrage stellen. Manche von ihnen sind zufrieden und sicher darin, manche unglücklich, aber sie bleiben. Sie sind stabil, verlässlich, gehen ihren Jobs nach, leben in einem Rhythmus, der von außen betrachtet geordnet wirkt.
Und dann gibt es die Bunten.
Diejenigen, bei denen die Farbe an jeder Ritze herausquillt, selbst wenn sie versuchen, sich zu tarnen. Hochsensibel. Medial. Intuitiv. Kreativ bis ins Mark. Menschen, die nachts wachliegen, weil
sie den Herzschlag der Welt hören. Die eine Melodie spüren, wo andere nur Lärm wahrnehmen. Die wissen, wenn etwas nicht stimmt, auch wenn niemand ein Wort gesagt hat.
Bunt sein bedeutet, nicht in die Schubladen zu passen, die für dich vorgesehen wurden.
Und manchmal… tut das weh.
Der Preis des Dazugehörens
Wer so aufwächst, lernt früh, dass Anderssein auffällt. Und nicht immer im guten Sinne. Also probiert man, sich anzupassen.
Man lernt, wie man lacht, wenn man sich nicht danach fühlt. Wie man schweigt, wenn die eigene Wahrheit zu laut wäre.
Manchmal verrät man sogar kleine Teile von sich – nur um für einen Moment an einem Tisch sitzen zu dürfen, an dem man eigentlich gar nicht satt wird.
Das ist der tiefe Schmerz: zu wissen, dass man nicht wirklich dazugehört, selbst wenn man sich äußerlich einfügt. Es ist, als würde man seine eigene Melodie dämpfen, damit sie sich im Chor der anderen nicht zu sehr abhebt.
Leben zwischen den Welten
Ich sehe das heute bei so vielen Menschen. Bunten, die sich für kurze Zeit grau färben, um nicht aufzufallen. Grauen, die insgeheim eine Farbe in sich tragen, von der niemand weiß.
Und ich habe gelernt, damit umzugehen, ohne daran kaputtzugehen.
Das Geheimnis?
Zu wissen, dass beide Welten ihre Schönheit haben – und dass es keine Schande ist, zwischen ihnen zu wandeln.
Ich kann im Grau stehen, wenn es mich schützt. Und ich kann meine Farbe strahlen lassen, wenn es mich ruft. Ich weiß, dass mein Wert nicht davon abhängt, in welche Kategorie man mich steckt.
Vielleicht ist das die eigentliche Kunst:
Als Bunter die eigene Farbe nicht zu verlieren,
und als Grauer zu wissen, dass man jederzeit ein Stück Himmel aufreißen darf.
Denn am Ende… sind wir alle mehr als nur eine Farbe.
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